Man fragt sich, warum die Elbchaussee in Blankenese einen so merkwürdigen Verlauf nimmt. Aber das ist eben das Besondere an diesem weltbekannten Straßenzug. Die Besonderheit wurde verursacht durch die Godeffroys, die mit ihren klassizistischen Hansenbauten, ihrer Hirschparkanlage und der Aufforstung großflächiger Gebiete in der Umgebung vorausschauend gewirkt haben, wofür wir heute sehr dankbar sind. Mit dem merkwürdigen Verlauf der Elbchaussee haben sie sich jedoch ungewollt ein weiteres Denkmal gesetzt.
Es begann mit den Brüdern Pierre und Jean Cesar IV. Godeffroy, die dort in Dockenhuden Ende des 18. Jahrhunderts Ländereien erworben hatten, worüber damals der Weg zur Nienstedtener Kirche führte. Bei Blankenese gab es noch keine Kirche und die Einwohner von Alt-Blankenese mussten zum Gottesdienst immer nach Nienstedten pilgern, zu Fuß am Elbufer entlang oder durch den Mühlenberger Weg und die Panzerstraße hinunter ins Mühlental und nach oben über den auch heute noch so genannten Blankeneser Kirchenweg, durch den Park des Jean Cesar Godeffroy. Der konnte den Weg der Kirchgänger hier nicht umleiten oder sperren und baute einen schmalen Tunnel für sich und seine Gäste, um - unbelästigt vom Fußvolk aus Alt-Blankenese - zu seiner Aussichtsplattform über der Elbe zu gelangen. Wer vom Oberland aus zur Kirche wollte, zu Fuß oder mit der Kutsche, musste nicht erst ins Mühlental hinunter, er nahm die Kirchenstraße in Dockenhuden, die heute Pepers Diek heißt.
Das ist aus heutiger Sicht kaum vorstellbar, da ist Phantasie gefragt: Wo würden Sie als mittelalterlicher Kutscher mit Pferd und Wagen von Alt-Blankenese nach Hamburg fahren, wenn Sie erst einmal den Höhenunterschied vom Strand über die serpentinenartige Blankeneser Hauptstraße bis aufs Elbhochufer überwunden haben? Sie würden doch nicht wieder die steilen Täler am Mühlenberger Weg und Mühlenberg durchqueren, sondern oben um die beiden Täler herum fahren. Genau so müssen Sie sich den ursprünglichen Verlauf der heutigen Elbchaussee vorstellen. Für Kutschen aus Alt-Blankenese war dies der direkte Weg nach Nienstedten und deshalb sprach man von der Kirchenstraße.
Das änderte sich schlagartig in der Zeit um 1790, als die Godeffroys immer mehr Ländereien in Dockenhuden erworben hatten. In den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, genauer gesagt von 1784, als der Dänenkönig die Vermessung seines Landes angeordnet hatte, bis 1796 entstanden auch die ersten Flurkarten der Gegend. Erhalten sind verschiedene Fassungen einer Karte von Dockenhuden von dem „beeydigten Landmeßer“ J. Carstens (1789) und eine militärische Karte der Herrschaft Pinneberg von „Offizieren des Schleswigschen Infanterieregiments“ ebenfalls von 1789. Danach lässt sich die Entstehung von „Godeffroys Gedächtniskurven“ genau auf dieses Jahr datieren. Auf der militärischen Karte (Abb.1) ist der ursprüngliche Verlauf der „Elbchaussee“ noch durchgehend eingezeichnet, auf den anderen von Carstens aus dem gleichen Jahr ist er nur noch fragmentarisch zu erkennen.
Es sollen hier weder das Ansehen der Gebrüder Godeffroy herabgewürdigt noch die Anerkennung ihrer großen Verdienste geschmälert werden. Ihre Bauten und Parks sind sichtbare Zeichen guten Geschmacks und edler Gesinnung. Wir alle profitieren von den Aufforstungen riesiger Flächen in unserer Umgebung. Aber es bleibt einer rechtswissenschaftlichen Untersuchung vorbehalten, ob die Duldung der Kirchgänger nicht vielleicht gewohnheitsrechtliche Gründe hatte oder gar kirchenrechtliche Verpflichtung war. Der Tunnel unter dem Blankeneser Kirchenweg spricht nicht unbedingt für ein soziales Engagement des Erbauers. Vielleicht hatten auch Berichte aus Paris von den Unruhen vor der Französischen Revolution für Respekt vor der Volksmasse und so für ein moderates Verhalten der Gutsherren gesorgt.
Die Straße vor Jean Cesars Hirschparkhaus und auch die Straße neben dem Weißen Haus von Pierre Godeffroy wurden dennoch rücksichtslos gesperrt und Fahrzeuge mussten sich eine Umleitung durch das Dorf Dockenhuden gefallen lassen. Ein wehrhaftes Einfahrtstor zum Hirschparkhaus an der neuen Umgehungsstraße demonstrierte deutlich die neue Grenze zur Privatzone. Nur für Fußgänger blieb – ähnlich wie der Blankeneser Kirchenweg am Elbhochufer – ein schmaler Pfad im Nordwesten ganz am Rand des Grundbesitzes, der übrigens gegenüber vom Witthüs-Eingang heute noch erkennbar ist.
Auch der ursprüngliche Verlauf der „Elbchaussee“ im Hirschpark (Foto) ist noch an einigen uralten Linden erkennbar, die eine Allee ahnen lassen vom Parkeingang Mühlenberg ausgehend geradeaus, nirgendwo hinführend sondern plötzlich an der Grenze eines Privatgrundstücks endend. (Nicht zu verwechseln mit der ebenfalls schon vor Godeffroys Zeiten bestehenden Lindenallee.)
Meine These von dem ursprünglichen Verlauf der heutigen Elbchaussee bekräftigt auch das Forschungsergebnis von Dr. Grützner hinsichtlich der ersten Villa am Elbhochufer bei Blankenese, die sicher nicht irgendwo versteckt in der Botanik erbaut worden war, sondern unweit eines bedeutenden Landwegs.
Die weitere Geschichte der Elbchaussee ist auch wechselvoll. Am Anfang des 20. Jahrhunderts nannte man die beidseitig an Godeffroys Grundstücksgrenzen „gekappte“ Kirchenstraße ab 1919 „Bogenstraße“ und seit 1928 „Pepers Diek“. Die Elbchaussee mit „Godeffroys Gedächtniskurven“ erhielt schon vor 1900 ihren heutigen Namen. Der erste Neubau auf dem frisch parzellierten Komplex Ole Hoop/Godeffroystraße in Dockenhuden bekam hier 1906 die Hausnummer Elb-Chaussee 20. Alt-Blankenese zählte ihre Elb-Chaussee unabhängig davon von der anderen Seite mit eigener Nummernvergabe bis zur „Alten Blankeneser Apotheke“. Dazwischen lag Godeffroysches Grünland. Vereinigt wurden die beiden Elbchausseen erst 1919 mit der Vereinigung der beiden Dörfer. Und in der Mitte des letzten Jahrhunderts kam im Osten noch die ganze Flottbeker Chaussee bis Altona dazu, was die Elbchaussee auf fast 600 Hausnummern brachte.
Übrigens war der Mühlenberger Weg nicht auf seiner gesamten Länge die Grenze zwischen Dockenhuden und Blankenese. Eine kleine Fläche östlich an der Ecke Elbchaussee mit der „Alten Blankeneser Apotheke“ und dem ehemaligen Hotel- Restaurant „Zur Johannesburg“ mit der Straßenbahn Endstation gehörten auch damals schon zu Alt-Blankenese. Nördlich, östlich und südlich davon erst schlossen die Godeffroyschen Felder von Dockenhuden an, die um 1900 mit der Schiller- und Goethestraße (heute Godeffroystraße und Ole Hoop) erschlossen und Anfang des 20. Jahrhundert bebaut wurden. Dr. Wilhelm von Godeffroy und sein Nachfolger, ein Herr Kirsten, bekamen die Genehmigung zur Parzellierung erst nachdem ein Bauplatz für die Blankeneser Kirche auf dem Dockenhudener Grundstück kostenlos zur Verfügung gestellt worden war. Man erzählt sich auch, dass Herr Kirsten trotzdem „seine erste Million“ mit der Parzellierung verdient haben soll.
Auf mangelnde Rücksichtnahme der Godeffroys auf Nachbarn ist zu schließen aus der Standortwahl für das als feuergefährlich einzustufende Backhaus des Pierre Godeffroy vom Weißen Haus. Es wurde aus verständlichen Gründen möglichst weit entfernt von der Villa, jedoch ganz scharf an der nördlichen Grundstücksgrenze errichtet, 150 m vom massiven Herrenhaus entfernt aber keine 50 m von dem mit Stroh gedeckten, nachbarlichen Bauernhaus. (Rekonstruierte Fundamente vom Backhaus befinden sich im Garten der Godeffroystraße 4.)
Godeffroys Gedächtniskurven können wir heute als Kuriosum belächeln und nach 222 Jahren Gewöhnung mit Gelassenheit akzeptieren zumal die technische Verkehrsführung im letzten Jahr deutlich verbessert worden ist. So kann eine Umgehungsstraße mitten durchs Dorf durchaus auch etwas Positives sein, wenn man bedenkt, was Lärm und Abgase von täglich mehreren tausend Autos im Park anrichten würden. Wir sollten die Kurven also andächtig in dankbarer Erinnerung an die Godeffroys durchfahren – gegebenenfalls auch mit erzwungenen Gedenkminuten an zwei Ampelanlagen auf der Strecke.
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